Wir messen in unserem Konzept den mathematischen, konkret dinglichen Sachverhalten besonderen Wert zu. Das klingt zunächst banal. Aber viele Unterrichtserfahrungen mit Kindern mit Problemen in Mathematik und Betrachtungen über Schulbücher, Expertenempfehlungen und Unterrichtspraktiken führten uns zu der Ansicht, dass das Vermitteln mathematischen Denkens fast ausschließlich auf sprachlich-symbolischer Ebene stattfindet (sieh dazu auch unseren Aufsatz „Pseudoanschauungen“). Wir erachten die mangelnde Förderung der Vorstellungskraft von basalen mathematischen Vorgängen und Begrifflichkeiten (anschaulich, Anschauungen) als Hauptursache der Symptome, die in der Fachwelt als „Rechenschwäche“ oder „Dyskalkulie“ bezeichnet werden.
Viele Modelle wurden entwickelt, die das rechnerische Denken beschreiben und es in ihren vermuteten Komponenten überschaubar machen sollen. Um unser „Paradigma“ zu veranschaulichen, haben wir hier, in Anlehnung solcher Modelle, ein Schema unseres Ansatzes versucht (siehe Abb. 1). Es soll dies nur eine Darstellung einer Hypothese sein, wie ein Umdenken nach unserem Dafürhalten aussehen sollte.
Die Unterscheidung und Benennung der Bereiche „mathematisches Denken“ und „Hilfs-Disziplinen“ soll die Gewichtung ausdrücken, die wir den Komponenten bemessen – dadurch unterscheidet sich unser Modell von (allen) anderen Modellen.
Natürlich wird der im Rechnen geübte Mensch nicht immer in Mengenbildern denken, sondern mathematische Probleme nur auf der Ebene der „Hilfsdisziplinen“ lösen können. Aber auch die Automatismen, Begriffe und Symbole der „Hilfsdisziplinen“ müssen als „Vorstellungseinheiten“ gedacht werden. Selbst die anspruchsvollsten mathematischen Aufgaben müssen stets in Strukturen gedacht werden, die wiederum als Bilder bezeichnet werden können.
System der Anschauungen nach unserem Konzept
Grundvorstellungen
In der Forschung wird die essentielle Bedeutung der visuell-räumlichen Repräsentation (Anschauungsmittel) beim Rechnen Lernen vielfach betont. Es sollte nicht konkret gegenständlich sein, also nicht an realen Gegenständen gebunden sein, sondern bereits eine niedrige Abstraktionsebene erkennen lassen. Eine niedere Abstraktionsebene ist erreicht, wenn merkmalarme Dinge (z.B. Muggelsteine) oder Bilder (z.B. Punkte) strukturiert angeordnet sind. Dabei ist wichtig, dass diese Anschauungen gut im Gedächtnis behalten werden können und in der Vorstellung leicht „bearbeitet“ werden können. Hier sehen wir den Schlüssel zum erfolgreichen Rechnen Lernen. Auf der Ebene der Anschauungsmittel entstehen tragfähige Vorstellungen und Konzepte von den Beziehungen von Mengen (Zahlen) und ihren Teilmengen. Hier liegt die Basis des mathematischen Denkens!
Schon Lay schreib vor über hundert Jahren: „dass zur Erzeugung von Zahlvorstellungen ein Anschauungsmittel nötig ist und ein einziges genügt.“ (Lay 1907, S. 173, kursive Formatierung von uns).
Bereits damals kommentierte er die auch in den heutigen Schulbüchern immer noch anzutreffende Vielfalt an Darstellungen von Mengen zur Erzeugung von Zahlvorstellungen. Lay schrieb: „es ist deshalb ein großer Missgriff, wenn man alle möglichen Dinge als Anschauungsmittel zugleich verwendet: Kugeln, Striche, Finger, alle möglichen Zahlenbilder, alle möglichen Früchte, Tiere, etc.“ (Lay 1907, S. 174).
Linear in Reihen angeordnete Mengen-Darstellungen, wie in den allermeisten Förderanleitungen üblich „können also nicht als Anschauungsmittel, sondern nur als Zählmittel benutzt werden“ (Lay 1907, S. 177).
Mindestens so alt ist auch die Erkenntnis, dass Kinder mit fingerrechnenden Strategien deutlich geringere Rechenleistungen erreichen als nicht-zählende Rechner.
Sehr häufig ist aus der Fachwelt zu erfahren, dass die Vernetzung verschiedener Anschauungsmittel und Zahlen-(Mengen-)-Darstellungen wichtig ist. Hier möchten wir aber deutlich angemerkt haben, dass dieses Vernetzen erst zu einem späten Zeitpunkt erfolgen soll und bei Kindern mit Problemen beim Rechnen Lernen erst sehr spät erfolgen darf. Wir sehen es als sehr wichtig an, dass ein Kind zuerst nur mit einer Mengen-Zahl-Vorstellung vertraut sein soll, bevor es mit der Übertragung in ein anderes Vorstellungssystem (z.B. Zahlenstrahl usw.) konfrontiert wird.
Die Ursprünge des Anschauungssystems unseres Konzeptes
Die Grundstruktur der Mengenbilder geht auf Born (1867) zurück (Abb. 2a). Die Elemente der Mengen werden scheinbar zweireihig mittels Punkte dargestellt. Die Abfolge der Elemente ist jedoch stets in vertikaler Richtung (Abb. 2b). Dadurch befindet sich das einzeln bleibende Element ungerader Mengen immer oben.
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert unternahm W. A. Lay Untersuchungen zum Rechenlernen bzw. didaktische Experimente zu Zahlenbildern. Dabei konnte er zeigen, dass die Zahlenbilder nach Born für Kinder am leichtesten zu merken und wiederzuerkennen sind. Zusätzlich soll die Strukturierung der Bornschen Zahlenbilder in Vierergruppen weitere Vorteile für die Kinder bieten (Abb. 3).
Die Sonderpädagogin und Sprachheilpädagogin Maria Summer übernahm die Bornschen Mengenbilder in der Modifikation mit den Vierergruppen nach Lay. Sie begann bei der Einführung der Zahlenbilder mit der Menge 4 und leitete davon zunächst in der Reihenfolge 2, 8, 6 und 10 die geraden Mengenbilder ab. Nachdem diese Mengenbilder in den Rechenoperationen Addition und Subtraktion eingeübt worden waren, erfolgte die Erarbeitung der ungeraden Mengenbilder. Das Hunderterhaus dürfte Maria Summer von der Layschen Zahlbild-Rechenmaschine abgeleitet haben.
Darstellungssystem nach unserem Konzept
Wir übernehmen die Bornschen Zahlenbilder, die ebenfalls nach den Erkenntnissen von Lay modifiziert werden. Die Modifizierung beschränkt sich bei uns auf die Unterteilung der Bornschen Zahlenbilder in Vierer-Bilder, die durch Zweier- und/oder Einer-Bilder ergänzend strukturiert sind, oder sein können (Abb. 4). Leichter erlernbar und im Geiste leichter vorstellbar werden die Mengenbilder dadurch, dass sie ausschließlich senkrecht in Teilmengen untergliedert bzw. zusammengefügt werden. Dabei wird die herkömmliche Lese-Schreib-Richtung aufgehoben; diese ist als Relikt des Zahlenstrahls anzusehen und muss deshalb das mathematische Denken nicht mehr bestimmen.
Bei der Reihenfolge in der Einführung dieser Mengenbilder folgen wir nur bei gerader Anzahl der Mengenelemente der Reihenfolge nach Maria Summer (4, 2, 8, 6, 10). Die ungeraden Mengenbilder werden rein additiv erarbeitet, d.h. es wird stets die Menge 1 angefügt.
Eine Verknüpfung von Mengenbild und Farbe, wie z. B. bei Kühnelt, Montessori oder Cuisenaire wird nicht vorgenommen. Eine Farbe ist, so sehr es die Erwachsenen auch als kindgemäß ansehen, keine Eigenschaft einer Anzahl.
Eine deutliche Erweiterung des Darstellungssystems nach Born stellt nach unserem Konzept die Anwendung der Bornschen Zahlenbilder auf allen Ebenen der Zehnerpotenzen dar (Abb. 5). So werden die Zehner in der gleichen Weise wie die Einer angeordnet und gedacht. Ebenso wird mit den Hunderten, mit den Tausendern usw. verfahren. Die Stellenwerttabellen werden somit bildlich anschaulich vorstellbar und verlieren dadurch ihre Abstraktheit!
Der Vorteil der Darstellung nach Isolde Jäger liegt darin, dass die Zahlenbilder des ZR 10 auch im praktisch unbegrenzten Zahlenraum angewendet und gedacht werden können. Andere Anschauungsmittel wie das Hunderterhaus oder der klassische Rechenrahmen vermögen dies nicht zu leisten.
Vorstellungen von Mengen über hundert hinaus kann in den Darstellungsformen in unseren Schulen höchstens noch das „Montessori-Material“ vermitteln. Allerdings bietet dieses nicht einmal im ZR 10 annähernd die Anschauungsqualität der Bornschen Zahlenbilder, weil die einzelnen Kugeln linear angeordnet sind.